Gestern sass eine junge Frau mit zwei Kindern auf “ meiner“ Kirchentreppe gegenüber vom Atelier. Da sich sonst niemand dort aufhielt, beherrschte sie die Szene. Während ich mit einem Grafitstift skizzierte, drängte sich ein vertrautes Bildmotiv wie eine Folie hinter meine Zeichnung. Dabei spielte die Zuwendung der Mutter zu den Kindern sicher eine zentrale Rolle. Durch eine Korrektur waren es inzwischen übrigens drei Kinder geworden: Das jüngste auf dem Schoß stehend und die beiden anderen davor. Ich versuche die Bildfolie zu benennen: In der Kulturgeschichte gab es die Urmütter, die im Christentum zur Madonna mutierte. Eines der Motive, das zigtausende von Bildern hervorgebracht hat. Eine zweite Spur ist die fürsorgende Liebe, die Caritas, die in der Regel auch das Bild einer jüngeren Frau mit mehreren Kindern ist. Inzwischen sind die bildbegründenden Wurzeln und Ursprünge dieser Personifikationen weitgehend abgestorben (die Krise der religiösenKunst). Aber wir haben diese Bilder im Kopf. Sie gehören nicht nur zu meinem, sondern zum kollektiven, kulturellen Gedächtnis.
Offensichtlich sind diese Bilder auch heute für künstlerische Aktivitäten von prägender , „subversiver“ Bedeutung. Allerdings ist es im Falle meiner Skizze hinterher sehr schwer zu klären, ob die Erinnerung der Auslöser war oder ob die sich erst während des Zeichnens entwickelte. Ebenso schwierig ist es festzustellen wieweit gar die fertige Zeichnung selbst motivisch und stilistisch diesen diffusen Anmutungen ähnelt, also auf ein bestimmtes historisches Werk Bezug nimmt. Auf jeden Fall war die Wahl des Grafit-Stifts nicht vom Motiv oder Vorbildern bestimmt, sondern allein vom Wunsch kräftig und rasch zu arbeiten.
Die Belegbeispiele für meine Argumentation habe ich erst dann herausgesucht, als mir die Idee zum blog-post gekommen war. Einmal entschlossen, schreckte ich dann auch nicht mehr vor der Nachbarschaft des genialen Raffaels zurück.
Vergl. ähnliche Gedanken in Carola Dewors Kunst-Tagebuch „stiftefieber“