Hilfe, ich bin ein bekennender Kunst-Spießer! (Art77blog.axel-von-criegern.de. Nr. 336)

Der künstlerische (und existenzielle) Tiefpunkt unserer wunderbaren Berlin -Tage. Gut, das muss ich erklären. Blättert man durch mein kleines Skizzenbuch, lässt sich das vielleicht nachvollziehen.

 

Das sind die sicher wichtigen täglichen „Fingerübungen“ im Alltag: beim shopping mit den Enkeln, eine Straßenecke, in einem Park, in einem Internet-Cafe , Straßenhändler…Wie gesagt: Routine. Die wurde allerdings in Berlin durch einige künstlerische Erlebnisse in Frage gestellt. Im Wesentlichen war das der Besuch der renovierten Neuen Nationalgalerie. In der riesigen Eingangshalle hatte sich eine Menschenmenge um die zentrale Fläche versammelt und wartete. Aus dem Nichts tauchte eine Tänzerin auf und wirbelte diagonal durch den Raum auf eine Flötistin auf der anderen Seite zu. Die spielte abgewandt vom Innenraum unglaublich reich und ausdrucksvoll. Aufschreie, Atem, schrille und beruhigende Passagen. Wir waren zufällig zu Besuchern eines für vier Tage und für diesen Raum entwickelten Tanzereignisses der belgischen Tanzkompanie „Rosas“ der Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker geworden! Vielleicht war ich von diesem Erlebnis so angeregt, dass mich die Ausstellungen im Untergeschoss voll „erwischten“. Das begann mit dem großräumigen, exzellent präsentierten Druckwerk Gerhard Richters. Die Perfektion, Sorgfalt, Kühle der Präsentation hält einen auf Abstand und führte mir meine eigene geringe Bedeutung vor Augen. Der anschließende Rundgang durch die „nationale“, jüngere Kunstgeschichte , die wie in einer Ruhmeshalle und gleichzeitig ungeheuer überzeugend präsentiert wird, zwang mich dann vollends in die Knie.

Ich kann alle verstehen, die in solchen Momenten an sich selbst zweifeln. Ich war einer von denen. Im Lauf des Tages entstand dann besagte Zeichnung. Sie ist im wahrsten Sinne ein „disegno povero“.  Ich ließ die Striche unprätentiös laufen. Ohne Thema, ohne Ordnung. Natürlich schlichen sich Elemente ein, die an das Erlebte anschließen. Aber ich hatte das Gefühl der Entlastung, eines bescheidenen, aber auch rettenden Gegenübers zu all der kulturellen Wucht…

Wieder zurück in meinem geliebten Tübingen, merkte ich wie die Dinge hier vertrauter waren und in den Proportionen beschaulicher zusammenrückten. Es gibt auch nicht die Wucht der künstlerischen Ballung, die einen erdrückt. Hier ist die Kunst eher Begleiterscheinung des geistig-kulturellen Schwerpunkts, kaum gleichberechtigt. Vielleicht bilde ich mir das ein, dass ich hier weniger unter äußerem Druck stehe und die Messlatte niedriger hängt. Heute morgen las ich im “Schwäbischen Tagblatt” über einen Trend in Deutschland  “Spießbürger”  sympathischer  zu verstehen. Ohne dem jetzt weiter nachzugehen erinnerte es mich daran wie häufig ich mich selbstironisch als Spießer bezeichne. Für mein  Berliner Erlebnis habe ich jetzt dadurch genauere Bestimmung: Vielleicht war das ein unvermeidlicher und letztlich heilsamer “Spießer-Schock”.

” Help! I am a bourgeois artist!”

These are certainly important daily „finger exercises“ in everyday life: when shopping with the grandchildren, on a street corner, in a park, in an internet cafe, street vendors… As I said: routine. However, this was done in Berlin by some artistic. experiences in question. Essentially, that was the visit to the renovated New National Gallery. In the huge entrance hall, a crowd had gathered around the central area and was waiting. A dancer appeared out of nowhere and whirled diagonally across the room toward a flutist on the other side. Turned away from the interior, it played incredibly richly and expressively. Screams, breath, shrill and soothing passages. We happened to be visitors to a dance event developed for four days and for this space by the Belgian dance company “Rosas” by choreographer Anne Teresa de Keersmaeker! Perhaps I was so excited by this experience that the exhibitions in the basement „got me“. It all began with Gerhard Richter’s large-scale, excellently presented printed work. The perfection, care and coolness of the presentation kept everybody at a distance and made me realize my own inferiority. The subsequent tour through the „national“, recent art history, which is presented like in a hall of fame and at the same time incredibly convincing, then brought me to my knees.

I can understand everyone who doubts themselves in such moments. I was one of them. In the course of the day, the said drawing was created. Itis a “disegno povero” in the truest sense. I let the strokes run unpretentiously. No topic, no order. Of course elements crept in that connect to the experience. But I had the feeling of relief, of a modest but also saving counterpart to all the cultural impact…

Back in my beloved Tübingen, I noticed how things were more familiar here and the proportions moved closer together. There is also not the force of the artistic agglomeration that overwhelms you. Here, art is more of a side effect of the intellectual and cultural focus, and hardly has equal status. Maybe I’m imagining that I’m under less external pressure here and the bar is lower. This morning I read in the „Schwäbisches Tagblatt“ about a trend in Germany to see oneself as a philistine. Without pursuing this any further, I was reminded of how often I ironically describe myself as a bourgeois. With the Berlin experience I now have something more accurate determination.